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Mama

Mama wurde am 8.11.1956 geboren. Ihr Name war Martina Dietzsch – sie verabscheute ihren zweiten Vornamen, und ich werde mich also hüten, ihn hier in die Welt zu posaunen. Aber es sei doch gesagt, dass er wohl seine Wirkung nicht verfehlte, wenn meine Oma Gisela, Mamas Mama, ihn als mahnendes Donnergrollen einer sich ankündigenden Strafpredigt durch die ostberliner Wohnung rauschen ließ. Zu ihrem eigentlichen Vornamen fand Mama allerdings auch keinen rechten Zugang. Martina, das hat etwas unbeholfen feminisiertes an sich, fand sie, sie fühlte sich zu sehr an das maskuline „Martin“ erinnert, und auch ohne dass man die etymologischen Hintergründe von Mars und Krieg parat hat, darf man sich ihr anschließen.

Da wir bei Namen sind: Gisela hatte im Laufe der Jahre mehrere Männer, der Vater meiner Mama hieß Walter. Da niemand in unserer Familie vor albernen Kose- und Spitznamen gefeiht ist (Gisela selbst würde, doch das gehört nicht hierher, Jahre später den Spitznamen „Wassilissa“ bzw. „Wassi“ abkriegen und Zeit ihres Lebens nicht mehr loswerden), musste auch Walter damit leben, von wenigen bei seinem echten Namen gerufen zu werden. Stattdessen nannte man ihn „Stups“. Das Epithet rührte von seiner süßen Nase her, die meine Mama von ihm erben würde, noch an mir, der ich meiner Mama optisch in Teilen ähnle, sieht man den possierlichen Gesichtserker, der in unserer Linie weitergereicht wird. Man möge meinen Nachkommen die Daumen drücken. Oder eben die Nase.

Es war auch Stups, der Mama zu ihrem eigenen unabschüttelbaren Spitznamen verhalf. Als er das kleine Mädchen, das eines Tages weiß-der-Fuchs-was angestellt hatte, in einem Anflug von Ärger als „Mistbiene“ bezeichnete, was auch immer das sein mag, war es passiert. Noch heute ist Mama zwar bei vielen ihrer Freunde „Tina“ oder „Tinchen“, für ihren geliebten Mann Mirko auch einfach „Martina“ – aber für ebensoviele, darunter meine Oma, meine Tante, meinen Papa und manchmal sogar mich, war sie einfach „Biene“, „Bienchen“ oder, ganz krass, „Bienemienchen“.

Stups wurde nicht alt, er starb mit 33 Jahren an einem Herzproblem (das mich, doch auch das gehört nicht hierher, jahrelang wie ein Gespenst verängstigt hat und jetzt, da ich über 33 bin, langsam in Frieden lässt). Mama wurde außerdem mit einer quirligen kleinen Schwester gesegnet. Auch Jaqueline / Jacky hasst ihren zweiten Vornamen, und auch er soll also Geheimnis bleiben, zumal Jacky putzmunter und zumindest theoretisch in der Lage ist, mir eins auf die süße Stupsnase zu geben.

Eine DDR-Jugend, die früh vom 60er-Boom und später von der Öffnung gen Westen geprägt war, muss turbulent gewesen sein, zumal meine Oma in mancherlei Hinsicht etwas Unstetes an sich hatte. Beruflich zog es Mama früh zu Tieren hin, doch eine Ausbildung in Veterinärmedizin blieb ihr verwehrt und ein Studium der Agrarwissenschaft wurde schnell wieder sein gelassen. Stattdessen ging sie ins Arbeitsleben und lernte das, was man heute peinlicherweise „Service-Fachkraft“ nennen würde und was man doch aber im Osten mit Stolz „Kellnerin“ nannte, mit Schein und allem drum und dran. Es sollte ihr Traumberuf werden und bleiben.

Jahre später würde sie den Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können – die Rücken-, Schulter- und Nackenpartie einer zierlichen Frau um die 1,60 kann nur eine begrenzte Anzahl von Jahren lang mehrere Haxen gleichzeitig zu einem Tisch johlender Connaisseure hieven, ohne dabei selbst ein paar Knaxe zu erleiden. Doch auch, als sie später als eigentlich ungebrauchte Sekretärin in einem Büro saß, erwähnte sie manchmal, wie sehr sie sich in die Gastronomie zurückwünschte. Es ist eine dieser Leidenschaften, die man akzeptieren muss, weil man sie nicht nachfühlen kann. Nur, wer selbst gerne auf Berge steigt, versteht den innigen Wunsch anderer, suizidal gefährliche Höllenqualen auf sich zu nehmen, um mal von weit oben irgendwo runterzugucken. Und wenn ich alt wie der Methusalem werden sollte, werde ich nie verinnerlichen, was Mama zu einer so schweinisch-mafiösen Branche wie der Gastronomie gezogen hat. Sie liebte und brauchte die Menschen, den Trubel, den Druck. Immerhin lernte sie hier in den 90ern ihren Mann Mirko kennen, der für fast 30 Jahre ihr Partner sein würde.

In der Jugend aber zog es sie, wie viele junge Menschen, zur Musik. Weit davon entfernt, ein Groupie zu sein, hing sie doch in der DDR-Musikszene rum und bandelte mit meinem Vater an, Rainer, den natürlich noch nie irgendwer so genannt hat. Schmidte heißt er, für mich auch Papa. Papa spielte in verschiedenen Bands in der DDR, am erfolgreichsten und längsten im Gitarren-Duo „Minitraum“. Als Musiker mit Schein ließ sich allein damit genug Geld zum Leben verdienen.

Was sie genau beieinander hielt, ist aus heutiger Sicht und meiner Perspektive schwer zu sagen. Es war nicht die Schwangerschaft mit mir – meine Eltern waren vorher schon lange zusammen. Vielleicht war es einfach, dass sie sich gut verstanden und gern hatten. Mein Vater würde viele Jahre später, in den 2010ern sagen, er habe meine Mama von Herzen lieb, die beiden hätten bloß nie ein Paar sein sollen. Als die Wende 1990 ohnehin alle Aspekte des Lebens aufrüttete, entschieden sich Mama und Papa, ihre Ehe scheiden zu lassen. Ich blieb bei Mama, Papa blieb noch ein paar Jahre in Berlin und zog dann aus beruflichen Gründen nach Magdeburg, wo er bis heute lebt. Und die beiden wurden und blieben das, wozu sie eigentlich immer bestimmt waren: beste Freunde. Ein glücklicheres Scheidungskind als mich kann man sich kaum vorstellen.

Mama hatte so ihre Eigenarten. Ihr größter Knacks waren Katzen. Sie liebte die Biester über alles, als ich geboren wurde, war bereits Perserkatze Wusel anwesend, nach deren Tod (über 14 Jahre später!) war Mama nie wieder ohne Katzen, es wurden tendenziell im Laufe der Jahre sogar mehr. Sie liebte auch Katzenkitsch. Ihre Wohnung hängt voll mit Tand und Nippes in Katzenform, mehr, als ein Mensch aushalten können sollte. Mopse hatten es ihr ebenfalls angetan, obgleich sie kein Hundemensch war.

Sie war nicht stark religiös, hatte aber gerne mal etwas Selbstverklärendes. Sie hoffte innig darauf, dass der liebe Gott böse Menschen strafen würde, tat manchmal wichtige Dinge mit flapsigen Abwink-Argumenten ab und auch ein bisschen Aberglauben konnte man entdecken. Sie las viel, am liebsten Biographien, „was echtes“, da allerdings querbeet, von Elizabeth I. bis Dieter Bohlen und zurück. Krimis waren auch gerne gesehen, und der zentrale Roman unserer Familie, Hellers „Catch 22 / Der IKS-Haken“, ging auch an ihr nicht vorbei. Sie strickte, spielte selten mal Videospiele, guckte gerne Filme, manchmal deutsche Krimis, manchmal aber auch gute Sachen.

Mama war in einem Maße großzügig und hilfsbereit, dass es wahrscheinlich schon diagnostisch relevant hätte sein müssen, und nicht nur mir gegenüber. Man konnte kein von ihr gemachtes Angebot ausschlagen, ohne dass entweder fünf Alternativen gefolgt wären oder Mama die Ablehnung einfach ignoriert hätte. Ging es darum, jemandem zu helfen oder Gutes zu tun, war „Nein“ für Mama schlichtweg keine Antwort.

Weihnachten fand schon seit Jahren bei ihr und Mirko statt. Zwischen der tollen Hausköchin und dem gelernten Koch blieben nie Wünsche offen, was meine Mama aber nicht davon abhielt, sich oft schon im Vorfeld zu entschuldigen, falls die Gans nichts geworden sei, so wenig es meinen Vater davon abhielt, mit seiner sarkastischen Art Öl ins Feuer zu gießen. Dann spielten wir in geselliger Runde bescheuerte Würfelspiele um Preise, die zuhause dann eh in der Ecke landeten. Albern, aber niemand von uns hätte es je missen wollen. Seit 2013 blieb der Stuhl meiner Oma Wassi unbesetzt. Wie die künftigen Weihnachten aussehen, kann ich nicht einmal beginnen, mir vorzustellen.

Bis wir dermaleinst in der Lage sind, Krebs zuverlässig und regelmäßig zu kurieren, werden immer weiter deprimierend viele Geschichten mit den Worten „Am Ende ging alles sehr schnell.“ enden. So auch diese. Ich sah Mama das letzte Mal bei einem Besuch Anfang März 2020. Sie war dünn, sah aber gut aus. Ihre nicht mehr schwarz gefärbten Haare, die deshalb seit kurzem eine verwegene weiße Tolle aufwiesen, die sie überraschend gut kleidete, wurden langsam dünn und fielen aus. Sie war schon seit langem nicht mehr rausgegangen. Wir spielten Karten, zu viert. Canasta, unser Familienspiel. Mama gewann. Mama gewann meistens. Sie hatte seit Kindertagen von ihrem Opa das Spielen gelernt. Außer durch Glück konnte sie kaum jemand schlagen.

Mama starb in den Morgenstunden des 2.5.2020. Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis ich weinen konnte.

Statt eines Epitaphs: Meine Welt in Mamas Kosmos

Ich bin kein Freund von Phrasen und Klischees, und das „Wachhalten der Erinnerung“, damit jemand „nicht wirklich fort ist“, kotzt mich an. Erinnerungen sind so eitel wie nur irgendetwas Menschliches und nicht umsonst sind Zeitzeugen die wertloseste aller Quellen. Das, was mich bei Verstand und Kraft hält, ist im Grunde viel simpler, zumindest für mich. Ich muss ausufern.

Ich nenne mich selbst Humanist. Teil davon heißt für mich: Der Wert eines Menschen realisiert sich nicht erst in seinem Handeln, sondern ist bereits in seinem Dasein angelegt. Für mich ist der Mensch, noch bevor er Blut spendet oder Joggen geht oder Robbenbabys schlachtet oder Sex hat oder Dudelsack lernt, wertvoll. Das liegt zum einen an meiner Sicht auf das Menschengeschlecht. Misanthropen nerven mich. Mögen sie halt weggehen und unter Pinguinen leben oder darüber schwadronieren dass „wir Hunde nicht verdienen“, ich bleibe bei der einzigen Spezies, die Lyrik schreiben, das Weltall bereisen und Brownies backen kann, trotz Krieg, trotz Gräueln.

Und dann ist da, in diesem faszinierenden, grauenvollen, wunderbaren Menschengeschlecht das Individuum. Und ganz ohne in Schmetterlingsklischees zu verfallen, aber die Auswirkungen, die jeder einzelne von uns jeden einzelnen Tag auf das Gesamtkonstrukt hat, sind derartig gewaltig und unüberschaubar, dass es mir ehrlich empfundene Ehrfurcht abnötigt. Ganz ohne dämliche Vorsatzlisten mit Einträgen wie „Pflanze einen Baum“ oder „Zeuge ein Kind“ sind wir, einfach dadurch, dass wir da sind, die Triebfeder unendlicher Bewegungen, und jeder von uns formt diese Welt in einem nicht auszumachendem Maße, eine kosmische Karambolage, deren unzählige Bälle nie zum Ruhen kommen. Jeder von uns hinterlässt, einfach dadurch, dass er sein Leben so lebt, wie es eben gerade passiert, einen Fußabdruck, der nur deshalb klein erscheinen mag, weil wir gar nicht die Distanz aufbringen können, um ihn jemals gesamt zu sehen.

Ich habe Freunde, die ein Paar sind. Als solches knüpfen sie unendlich viele und vor allem andere Bande, als sie es als Einzelpersonen getan hätten – ihre Familien sind verwoben, ganze Lebenshaushalte sind verschoben und umgezogen worden, vielleicht haben sie eines Tages Kinder, und und und. Die beiden haben sich, indirekt, durch mich kennengelernt, weil ich eines Sommermorgens eine Bewerbung losschickte, daraufhin einen der beiden als Kollegen fand – einen Monat später wäre das bereits nicht mehr oder ganz anders passiert – wir ein Projekt starteten, durch das der Kollege seine Partnerin fand. Und all das wäre nicht passiert, wenn sich nicht in den 70ern in der DDR ein hübsches, brünettes Mädchen an einen Musiker rangeschmissen hätte. Oder umgekehrt, ich war, wie man sich denken kann, nicht dabei.

Man muss nicht neu erfinden, was bereits gut gesagt wurde:

Jon: Thermodynamische Wunder… Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten, die so astronomisch gering sind, dass sie praktisch unmöglich sind, als wenn Sauerstoff spontan zu Gold wird. Ich sehne mich danach, so etwas zu sehen.

Doch in jeder menschlichen Verbindung kämpfen eine Tausend Millionen Spermien um ein einzelnes Ei. Multipliziere diese Chance mit unzähligen Generationen, gegen die Wahrscheinlichkeit, dass Deine Vorfahren überleben, sich treffen, und genau diesen Sohn, genau diese Tochter zeugen… bis deine Mutter einen Mann liebt, von dem sie jedes Recht hätte, ihn zu hassen, und aus dieser Verbindung, aus den Tausend Millionen Kindern, die um Befruchtung kämpfen, entstehst Du, Du allein. Dass eine so spezifische Form aus diesem Chaos der Unwahrscheinlichkeit entsteht, wie Luft, die zu Gold wird… das ist die Krone der Unwahrscheinlichkeit. Das thermodynamische Wunder.

Laurie: Aber… wenn ich, meine Geburt, wenn das ein thermodynamisches Wunder ist… ich meine, Du könntest das über jeden in der Welt sagen!

Jon: Ja. Jeden in der Welt… aber die Welt ist so voller Menschen, so überfüllt mit diesen Wundern, dass sie gewöhnlich werden und wir vergessen… dass ich vergesse. Wir blicken kontinuierlich auf die Welt und sie wird in unserer Wahrnehmung glanzlos. Doch von einem anderen Blickwinkel gesehen, als sei sie neu, kann sie uns noch immer unseres Atems berauben. Komm… trockne deine Augen. Denn du bist das Leben, seltener als ein Quark und unvorhersehbar jenseits der Träume von Heisenberg; der Lehm, in dem jene Kräfte, die alle Dinge formen, am deutlichsten ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Trockne deine Augen… und lass uns nach Hause gehen.

(Thermodynamic miracles… events with odds against so astronomical they’re effectively impossible, like oxygen spontaneously becoming gold. I long to observe such a thing.

And yet, in each human coupling, a thousand million sperm vie for a single egg. Multiply those odds by countless generations, against the odds of your ancestors being alive; meeting; siring this precise son; that exact daughter… Until your mother loves a man she has every reason to hate, and of that union, of the thousand million children competing for fertilization, it was you, only you, that emerged. To distill so specific a form from that chaos of improbability, like turning air to gold… that is the crowning unlikelihood. The thermodynamic miracle.

But…if me, my birth, if that’s a thermodynamic miracle… I mean, you could say that about anybody in the world!.

Yes. Anybody in the world. ..But the world is so full of people, so crowded with these miracles that they become commonplace and we forget… I forget. We gaze continually at the world and it grows dull in our perceptions. Yet seen from the another’s vantage point. As if new, it may still take our breath away. Come…dry your eyes. For you are life, rarer than a quark and unpredictable beyond the dreams of Heisenberg; the clay in which the forces that shape all things leave their fingerprints most clearly. Dry your eyes… and let’s go home.)

Wenn ich sonst nichts auf dieser Welt glaube, aber ich glaube das. Es ist der Rosettastein meiner Seele. Wer diese Perspektive, diese Worte nicht versteht, wird mich nie begreifen. Wer je einen Schlüssel brauchte, mich zu verstehen, hat ihn hier. Ich habe mein Weltbild, wohlgemerkt, nicht von Watchmen. Alan Moore hatte nurmehr Glück, mich zufällig in dieser Textbox abzubilden.

Natürlich kann man Doctor Manhattan, wie Laurie, entgegnen, dass eine unüberschaubare Häufung von Wundern dazu führt, dass es gar keine Wunder mehr sind. Dass, wenn nicht das eine Ereignis eingetreten wäre, eben ein anderes seinen Platz eingenommen hätte. Dass keines dieser Ereignisse, noch die daran beteiligten Personen, inhärent Wert hätten, wichtiger seien als andere oder man nicht auch auf sie hätte verzichten können.

Woraufhin ich entgegne: Ja, und?

Ich schaue aus diesem, meinem Paar Augen, keinem anderen. Ich bin in der Lage, mich Großes zu fragen oder über Kleines zu freuen. Jeden Tag öffne ich diese Augen, eines Tages werde ich sie nicht mehr öffnen. Es stellen sich alleine hierdurch Fragen, die bei aller menschlichen Fähigkeit und Neugier niemals beantwortet werden können und doch unbedingt, ohne Kompromisse auf Antwort drängen. Heute hat das Paar Augen geweint. Morgen wird es schmerzen. Andere Augenpaare, von denen ich nur annehmen kann, dass sie wie meine funktionieren, wandern über diese Zeilen, senden Signale an einen biologischen Computer, der sich fragt, worauf ich denn nun hinaus will.

Ganz ohne Verklärung, Religiösität oder Spiritualität: Wem diese bloße Kette von Zufällen, diese Reihe an Unerklärlichkeiten, die zu so verblüffenden Effekten und Fragen, zu Verbindungen und Implikationen, zu Gedanken und Tränen führt, nicht reicht, um diese Welt mit einer Spur Zauber und einer gehörigen Menge Antrieb zu füllen, der ist verloren. Wir sind Menschen. Wir können nichts außer fragen, lernen, streben und sterben.

Mamas Einfluss ist unauslöschlich. Sie hat die Welt verändert. Nicht etwa in einem kleinen Maße, sondern in einem so großen, dass uns die Perspektive fehlt, es überhaupt einschätzen zu können. Es mag sein, dass wir nur die Rädchen der Maschine sind, aber Maschinen haben so an sich, dass sie alle Rädchen brauchen, um zu funktionieren. Man kann bedauerlich finden, dass dieser Einfluss, wenn man mir denn Recht gibt, von allen Menschen ausgeht, dass er nichts „Besonderes“ ist, dass Mama eben auch „nur“ soviel Einfluss nahm und nimmt wie jeder andere. Ich finde den Gedanken unendlich tröstlich. Denn hierin liegt die wahre Essenz der Behauptung, dass jemand nie ganz weg ist, auch, wenn er gestorben ist. Wie könnte er? Ohne ihn hätte die Realität zu einem anderen Verlauf gefunden. Diese Realität, die er hinterlässt, ist ganz seine, wie auch ganz diejenige des Nachbarn. Das scheinbare Paradoxon ist, dass in diesem Szenario tatsächlich jeder besonders ist. Jeder Mensch ist wertvoll. Jeder Mensch ist wichtig und bleibt es auch. Willkommen in meinem Weltbild.

Mama wird mich nie verlassen, wie auch euch nicht. Niemand wird das. Erst, wenn von uns allen nichts mehr übrig ist, in der Realisierung der Entropie, am Ende des Universums, endet ihr Einfluss und wir werden alle vereint in der Phönixasche des Kosmos. Vorher wirkt Mama weiter und bleibt hier, wie auch ich, wie du. Irgendwann gesellen wir uns gänzlich zu ihr. Später.

Das ist ein Szenario, mit dem ich sehr gut leben kann.

Mama ist rechts im Bild, Ihr Spaßvögel.

Was der Bauer nicht kennt

Manch einer, der sich abreagieren muss, brüllt in ein Kissen, boxt auf einen Sandsack oder quält jemanden, der sich nicht wehren kann. Des Deutschen liebstes Ventil ist das gepflegte Gepluster und Aufgebausche, das urgermanisch ochsische Muhen, das traditionell von Floskeln wie „Es kann ja wohl nicht sein, daß…“ und ähnlichem mehr eingeleitet wird. Impotente Wut hat immer Konjunktur – wenn dem Deutschen nichts schwillt, so schwillt ihm doch immer noch der Kamm.

Ich hatte heute einen Scheißtag, also vergreife auch ich mich am Schwächeren und hacke auf besagtem Deutschen für ein paar Minuten rum. Ist nicht fair, mit jemandem ins Duell zu gehen, der unbewaffnet ist, aber wozu sind Strawmen denn sonst gut?

Da gibt es also eine Kette von Kaufhallen namens Edeka, die dem Betrachter auch nicht anders vorkommen kann als alle anderen Märkte. Es wird gleichermaßen schweinisch produziert, angekarrt, berechnet und verschachert wie sonstwo auch. Freilich ist bei Edeka alles ein bisschen teurer als etwa bei den Kollegen von Lidl oder Aldi, dafür darf der Joghurt dann mehr linksdrehende Kulturen haben und es gibt ein paar Marken Shampoo mehr, derlei. Gerade der höhere Preis macht es amüsant, daß sich Edeka zum 100. Firmenjubiläum nun eine Billigkampagne überstülpt, wo man doch sonst eher auf ein Qualitätsimage setzt („Wir lieben Lebensmittel.“ heißt es im üblichen Slogan Edekas.)

Otto Waalkes darf sich also auf Plakaten und Pappaufstellern abhampeln, um die Kunde von der Preiserlösung zu verbreiten. Bitte kein Mitleid – dies ist sein einziges Geschäft und schon immer gewesen. Der Freezer-Friese ist neben verschiedenen Slogans zu finden, von denen es nun einer geschafft hat, den Ärger des Deutschen zu erregen.

Behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?

Wenn ich tausend Jahre alt werde, werde ich dennoch nie verstehen, warum manche Formen kapitalistischer Verarschung umjubelt, andere verpöhnt und wieder dritte völlig indifferent wahrgenommen werden. Als nun also Zwerg Edeka (nicht Wichtel Aldi) auf einem der Otto-Plakate verkündete „Essen hat einen Preis verdient – den niedrigsten.“ hätte damit wasauchimmer gemeint sein können, es wäre mir ebenso wurscht (käse, fisch, eier, frühstücksflocken…) gewesen wie jede andere Werbung. In den sozialen Medien, wie sozial die auch immer sein mögen in gewissen Händen, ging dieses Plakat aber rum.

Bauern (tatsächliche Landwirte) platzten fast die Augen aus den Kartoffeln, was für eine Mentalität sei denn hier am Werk, Billigproduktion und -verkauf werde umjubelt und völlig die Existenz und Realität deutscher Agrarproduzenten herabgewürdigt. Den subventionierten Ärgeropfern fielen andere gute Deutsche zu, darunter auch manche aus der Politik. Ich wusste bislang nicht, daß die CDU/CSU die BRD als einen Arbeiter- und Bauernstaat begreift, ziehe aber die Uschanka vor den Genossen und ihrer beherzten Solidarität mit der Bauernklasse.

Der Ärger also rührt nicht davon her, daß Edeka übel seien, sondern, daß sie es sich auf die Fahnen geschrieben hätten. Marktwirtschaft ist toll, solange ich nicht jeden Tag daran erinnert werde, wie genau sie alles ruiniert.

Die Pointe an der ganzen Sache hätte sich den cholerischen Plakatstürmern aufgezeigt, wenn sie, anstatt selbst aufgebracht zu sein, zweierlei aufgebracht hätten: 1. ein gewisses Maß an gesunder Skepsis und 2. den Willen zu einigen Sekunden Recherche. Denn: Selbst angesichts der sonstigen Unfähigkeit von Werbefritzen, einen Ton oder gutes Deutsch zu treffen, ist der Sound an dieser Stelle doch eigenartig. Wer außer verbal unbeholfenen Kindern nennt denn im offiziellen Sprachgebrauch die hauptsächliche Ware eines Supermarktes „Essen“? „Essen“ ist das, was am Ende des Tages auf dem Tisch steht, nachdem es zubereitet wurde. Schließlich behauptet Edeka ja auch nicht „Wir lieben Essen.“, sondern, weniger absonderlich im anbiedernden Handelsdeutsch, „Wir lieben Lebensmittel.“ – gelogen ist beides, aber eines klingt weniger gefräßig als das andere.

Und siehe da, bereits wenige Scrollbewegungen später ist die (wirklich nicht sehr schwer abzusehende) Lösung diesen merkantilen Krimistoffes auch schon fast offen ersichtlich. Wenn man nämlich erstmal entdeckt, daß es ganz dasselbe Plakat auch nochmal gibt mit „Berlin hat einen Preis verdient – den niedrigsten.“, dann kann dies als Rosettastein dienen und das Muster wird offenbar: Mehrere Orte haben dieses Plakat abgekriegt. Darunter auch die Stadt Essen.

Natürlich wusste der Deutsche das, es ging ihm ja ganz allgemein um die destruktive Geiz-ist-geil-Mentalität, die in diesem unserem Lande yadda yadda yadda. Und so verhallt das teutonische Wutmuhen, während der Deutsche langsam aber unbeschämt auf dem Schäferhund in den Sonnen- und Wonnenuntergang trabt. Kein Gedanke schießt ihm durch die Graubrotzellen seines Gehirns, nicht daran, daß kein Ausgang dieser Eskapade irgendetwas geändert hätte, nicht daran, daß es Leute gibt, die nicht aus Geiz sondern Notwendigkeit nach niedrigen Preisen gucken, an gar nichts. Er ist schon längst bei der nächsten Drüsenreaktion – wird es diesmal um Benzinpreise gehen, SPD-Vorstände, ausländische Nachbarn?

Geändert hat sich wieder mal kaum etwas. Das Magengeschwür ist vielleicht wieder ein paar Millimeter gewachsen, Otto Waalkes kann eine weitere Rechnung bezahlen, Edeka schuftet und schurkt ebenso wie zuvor und nicht anders als seine Kollegen. Und doch gibt es einen Aspekt dieser ganzen Affäre, der von Wert ist, der die Welt ein kleines Stückchen besser macht und für den es sich doch gelohnt hat:

Ich habe ein ganz kleines bißchen weniger Scheißlaune als zuvor.

Subject: You’ll be fine.

It’s true. Not talking about happy endings either. Ultimately, any path and any ending is fine. Some are more sad than others. That’s okay. It’s just that sometimes, you have to hear that from a stranger, since friends can’t be trusted when it comes to truths, especially unpleasant ones. I know I could have used a letter or two from a stranger in my lifetime. Perhaps you, D., can use one too. Ultimately, I’m writing this letter to you, but for myself. Feels good to see it before my eyes instead of in my head. Maybe it feels good to you, too. If not, then you will simply ignore it, which is also fine.

But if it does, just remember: You’ll be fine. There’s no way you’ll not be.

You can’t trust a stranger, but you can believe me, precisely because I don’t know you at all. It’s not a judgement of your situation or your character, both of which I don’t know. It’s just a simple observation made countless times. Fulfillment and self-destruction, distance and obsession, the tides of soaring ego boosts and devastating self loathing, none of it is better than its counterpart. There’s no judgement that matters in these things, not even (or especially?) your own. I felt like the most worthless being in existence. So did many others. We were wrong, perhaps one of us was right, in the end it didn’t matter.

This is not nihilism. It’s not destructive. It’s a form of acceptance. No matter how one does feel internally, no matter if he gets validation from the outside or how he processes it, it’s okay. He is okay. Some people think that nothing matters and feel crushing despair. But it can actually be quite liberating to realize how little many things matter. It’s okay to feel shitty. It’s okay to sometimes have wronged someone, even yourself. It’s okay not to be the best at something. It doesn’t mean you’re a bad person. There are terrible things to do, for sure, and one can be a bad person. But not just by living your life and feeling you’re not good enough for someone, something, somewhere. Not just by looking at yourself and hating the idea that you could be so much more.

You’ll be fine.

Perhaps I will be, too. This letter is a good first step.

I considered asking you if I was allowed to send this letter, not wanting to just dump something on you. Actually. that’s a lie. I’m still considering while writing these very words. I just decided against it, which means you will never read it. That’s okay, I’m not your puzzle to solve, nor are you mine.

I think I’ll keep this letter. I like it. Perhaps you would have liked it, too. But in the end, with or without it, you’ll be fine.

-L

Der Lobster Award

Zu einer Nominierung gehört ja mindestens dreierlei, an dem sich ablesen lässt, ob man sich geehrt oder beschämt fühlen soll: der Nominierende, die Sache, für die man nominiert wurde und die Gesellschaft der anderen Nominierten, in die man sich begibt, wenn man folgt. Wenn nun also Felix Bartels einen putzigen Fragenkatalog unter dem Deckmantel des Lobster Awards (ehemals Liebster Award) in meine Richtung schickt, weil er zuvor nominiert wurde, ist es meine Pflicht und Freude, so ziemlich alles stehen- und liegenzulassen und zu antworten.

1. Was sind die Zutaten eines schönen Abends?

Es kann ja nun niemand behaupten, daß ihm nur ein Gericht schmeckte, und so, wie verschiedene Mahlzeiten unterschiedliche Zutaten erfordern, tun es auch verschiedene Abende. Eine denkbare Kombination wäre: leichter Alkohol, dusselige Freunde und ein guter Film, der in acht von zehn Fällen „Midnight Run“ heißt, manchmal aber auch anders. Der Film darf auch durch Gespräche ersetzt werden, man kann dann zum Beispiel die Probleme der Welt lösen, sich gegenseitig die längst bekannte Gesinnung streicheln und anschließend seufzen, daß man nicht am Hebel sitzt. Wer mich aber kennt, weiß, daß ich auch noch sinnloseren Tätigkeiten nicht abgeneigt bin. Es dürfen Tee und Spiele involviert sein. Oder man streicht alles bis auf den Alkohol, steigert dessen Maß dann dafür aber in Höhen, die nicht nur Hippokrates mit vollem Recht als „giftig“ bezeichnet hätte.

Oh, und Sex. Sex geht immer.

2. Das schönste Stück Lyrik, das du je gesehen, bitte: (nicht zitieren, nur Autor, Titel)

Eigene Lyrik ausgenommen? Ich habe eine Vorliebe für Heine und, wie nicht wenige wissen, Hacks. Von ersterem wäre es vielleicht „Mein Herz, mein Herz ist traurig“, von letzterem „Englische Eröffnung“ – ich stehe nun einmal auf Gedichte mit einer unvermittelten, knackig am Schluss eingeworfenen Pointe.

That being said: Ich würde mir die linke Hand abschneiden, wenn ich dafür Marco Tschirpkes „Atlantis“ hätte schreiben können.

3, Sind ästhetische Werturteile objektivierbar?

Sie sind es nicht nicht. Ich habe seit jeher ein Problem mit der Auffassung, der einzige Unterschied zwischen Mozart, Michael Jackson und Modern Talking sei ein subjektives und also ein Geschmacksurteil. Es gibt Unterschiede, in Gattung und Machart, und über diese kann man reden. Und wenn meine Erfahrung mich nicht im Stich lässt, so führt reden zu denken und denken immer auch zu Urteilen. Den Gemeinplatz, daß reine Objektivität nicht erreicht werden könne, einmal außen vorgelassen, sage ich: Sie sind objektivierbar. Daß sie niemals ungefärbt und vollkommen objektiv sein werden, ist eine lausige Ausrede dafür, den eigenen Kopf nicht zu benutzen.

4. Kann man sich je freimachen von Ideologie?

Das kommt wohl auch darauf an, wer „man“ ist. Ganz generell gilt auch hier wieder: Reinheitskomplexe stehen der Wirklichkeit entgegen. Wir bewältigen ja nun nicht unser Leben und häufen Erfahrungen und Ansichten an, um sie anschließend komplett wieder ablegen zu können. Interessanter wäre doch die Frage, wie weit man sich von Ideologie freimachen kann, was an ihre Stelle träte und ob dieser Vorgang immer wünschenswert ist.

Also komplett: Nein, wohl nicht, jedenfalls kenne ich kein Beispiel. Doch ich kenne Beispiele für Leute, die ihre Ideologie auf ein Mindestmaß zurückschraubten und mit der neu entstandenen Distanz zum sujet du jour Erstaunliches vollbrachten. Davor habe ich Respekt.

5. Hast Du ein Lebensthema? Wenn ja, welches?

Schwer. Normalerweise wäre es das übliche, das Hinterlassen von Fußspuren, einen Unterschied machen, derlei. Da es damit in der Praxis gerade etwas hapert, wäre es momentan: Sieh zu, daß die Welt durch Dich nicht zu einem schlechteren Ort wird, als sie sein kann.

6. Blitzantwort: Kant oder Hegel? Mozart oder Stockhausen? Kochen oder essen?

Hegel, Mozart, essen. Letzteres, weil ich nicht kochen kann, sonst anders.

7. Ein Blick in Brechts Lehrstücke: Angenommen einer könnte, indem er sich opfert, das Überleben einer Gemeinschaft retten – sollte er es tun? (Mr. Spock sagt: ja)

Ich sage es wie Spock: The needs of the many outweigh the needs of the few.

8. Abgesehen von Günter Grass: Welcher Dichter der Gegenwart (20./21. Jh.) ist am abstoßendsten?

Durs Grünbein.

9. Die drei besten Kinofilme aller Zeiten sind:

Léon der Profi, Hero und Ghostbusters. Bonus: Die Nacht der reitenden Leichen.

10. Gehört der Tod abgeschafft?

Nah.

11. Worauf kömmt es an: die Welt zu interpretieren oder sie zu verändern?

Die alte Frage nach Idealismus und Materialismus, nach der Wechselwirkung zwischen Idee und Wirklichkeit, kommt selten in seltsamerer Verkleidung daher denn als Frage in einer Blog-Nominierung. Den von FB oft wiederholten Spaß „es kommt aber darauf an, sie zu interpretieren“ ebenso ausgelassen wie die krakeelenden Jugendlichen, deren blinder Aktivismus sich in Raufereien auf dem Mariannenplatz oder Pamphleten in der Fußgängerzone entlädt: Die Vorstellung, man könne die Welt interpretieren oder verändern, ohne auch jeweils das andere zu tun, erscheint mir kurzsichtig. Wenn handeln nicht die Entladung einer Idee sein soll oder die Interpretation das Resultat einer aus Handlungen erzeugten Wirklichkeit, dann weiß ich nicht, was sie jeweils sein sollen. Warum sie als antagonistisches Paar darstellen, das sie nicht sind?

Meine Antwort auf die Frage lautet also: Ja.

 

Ich befinde mich nun in der schwierigen Lage, weitere Leute nominieren zu sollen. Streicht das: Es ist eine unmögliche Lage, denn ich kenne keine Blogger oder sonstwie geeignete Kandidaten. Das, und ich weiß über meine Freunde das, was ich wissen muss, weitere Fragen wären unhöflich oder ergeben sich beim Bettgeflüster. Glücklicherweise endet die Kette ja nicht bei mir, also kann ich beruhigt masturbieren gehen.

Sollte jemand doch Vorschläge haben, dann möge er sie sagen oder die Betroffenen gleich selbst nominieren.

Wie hältst Du’s mit der Liebe?

Im Vorwort zu seiner „Philosophie des Rechts“ bemerkt Hegel, daß die Liebe einen zumindest scheinbar unauflöslichen Widerspruch darstellt – sie bedeute nämlich, einen Teil seiner selbst aufzugeben, um sich selbst zu komplettieren.

Ich habe vor einigen Jahren ein Gedicht aus diesem Umstand gemacht. Es geht wie folgt:

 

Ich geb mich auf und werde ganz
So ist es in der Liebe
Ein alter weicht dem neuen Glanz
Wer weiß, wo der sonst bliebe?

Die Einsamkeit? Ein kleiner Preis
Ich schreib Dir kleine Lieder
Ich finde mich auf diese Weis
In Selbstaufgabe wieder

 

Wie gesagt: Der Widerspruch ist nur scheinbar. Ich habe Hegel gehörig missverstanden, wie alle Leute, aber der Gedanke, mich ihm auf meine eigene, kleine Weise angenähert zu haben, tröstet mich ungemein.

Dualitäter

Wenngleich Philosophie nicht mein Steckenpferd ist, so bin ich doch höchst interessiert an den Irrtümern der Leute, und nichts wird schöner missverstanden oder missbraucht als Gedankenexperimente. Es ist ein altes Spiel: Zäune werden zu Verfälschungen unserer inhärent freien Natur und schon Marx amüsierte sich über die Verknalltheit des Bürgertums in Robinsonaden, die den angeblich wahren Charakter des Menschen daraus ableiten wollen, wie ein moderner Mann sich entwickeln würde, wenn man ihn aus der Umgebung isoliert, die ihn überhaupt erst geschaffen hat, und stattdessen zwingt, sich einen Lendenschurz selbst zu klöppeln und vor den verwirrten Krabben am Strand zu masturbieren.

Einer meiner Favoriten ist der Trugschluss der goldenen Mitte. Es wird richtig gesagt, daß der reine Mittelweg zwischen zwei Positionen nicht zwangsläufig die beste Lösung darstelle. Wenn zwei Eheleute sich darüber streiten, ob sie ein Haus bauen sollen, weil einer es will und der andere nicht, ist keinem damit geholfen, wenn man ein halbes Haus baut. Wenn der Anwohner sagt, die Termiten in seiner Wohnung müssten vernichtet werden, und der Tierschützer, daß man das auf keinen Fall dürfe, sollte man nicht einen Teil der Krabbler plattmachen.

Doch ich kenne keinen Namen für den den ebenso falschen Umkehrschluss und die häufig aus diesem Trugschluss abgeleitete Idiotie, die Mitte zwischen zwei Positionen könne deshalb zwangsläufig nicht die richtige Position sein. Oder die ebenfalls oft irrige Annahme, es gebe nur exklusiv die beiden angesprochenen Positionen.

Ein Teil der Ursache dieses Problems ist natürlich Parteilichkeit. Wer einen Standpunkt hat, rückt von diesem in der Regel nicht mehr ab, und einen Kompromiss zu erreichen führt in der Regel zu unbefriedigten Handelspartnern. Doch das Problem geht tiefer. Eine mittlere Position nämlich ausschließlich als Kompromiss zu verstehen, ist nur die konsequente Fortsetzung der ersten irrigen Annahme, daß man mit den beiden gegensätzlichen Positionen zu arbeiten habe.

Aber natürlich ist das unbeholfene Einerseits-Andererseits zwischen den Stühlen nicht das Ziel einer Überlegung, sondern bestenfalls ihr Anfang. Wer sich mit dem Standpunkt zufrieden gibt, daß beide Seiten ihre Argumente und ihr Recht haben, und mit dieser platten Erkenntnis schlafen geht, der hat nicht überlegt, sondern ist ausgewichen. Was man mit der Erkenntnis anstellt, ist die Frage.

Kommt man zu dem Schluss, daß eine der Seiten im Recht ist, kann man diesen Standpunkt für sich einnehmen, und er ist durchaus zu unterscheiden von dem, der als reiner Beißreflex im ersten Moment einer Auseinandersetzung so oft eingenommen und dann bis aufs Blut verteidigt wird. Es gibt denkende Menschen in Parteien, aber denkende Parteien gibt es nicht. Reine und unkritische Parteilichkeit ist eine Religion, die also die Welt strukturieren und die eigenen Haltungen automatisieren soll.

Ebenfalls möglich ist natürlich, daß man sich vom Konflikt abwendet. Eine solche Kapitulation ist feige, aber doch ehrlicher als der pluralistische „Jeder hat ja irgendwie Recht“ Stuss. Viel schwieriger aber ist, im Konflikt eine Mitte anzustreben, die sich über die Interessen und Motivationen der Kontrahenten erhebt und diese Ansprüche auf einer höheren Ebene als der, sich gegenseitig mit Schaufel und Sandförmchen zu beschmeißen, aufzulösen sucht. Die meisten können das nicht, noch mehr wollen es nicht. Synthese ist Denken. Denken ist Arbeit. Der eigentliche Trugschluss der goldenen Mitte ist, daß sie nicht golden sein könne, weil man denkt, was mittig ist, müsse deshalb auch auf Augenhöhe sein. Um Tiefe zu erreichen, muss man dreidimensional gucken. Insofern würde ich diesen (soweit ich weiß) namenlosen Fehlschluss gerne an dieser Stelle taufen: Der Fehlschluss der fehlenden Z-Achse.

Es ist manchmal schwer zu glauben, daß ich, wenn ich aus dem Fenster blicke, dieselbe Stadt sehe, die auch Hegel aus seinem Fenster gesehen hat.

Das Zeitalter des Plapperns

Wenn einer sich äußert, dann müssen wir davon ausgehen, daß einer von zwei Fällen vorliegt: Er ist entweder überzeugt davon, etwas zu sagen zu haben, oder es ist ihm herzlich wurscht, daß er nichts zu sagen hat.

Welcher der beiden Fälle nun also bei mir vorliegt, ist eine interessante Frage. Da ich ein Blog habe, liegt die Vermutung nahe, ich sei einfach einer der üblichen quasselnden Ego-Klumpen, die angesichts des pluralistischen Zeitalters ihr reines Dasein mit Wichtigkeit oder dem Recht auf Respekt und Angehörtsein verwechseln. Es ist eine Möglichkeit. Wenn Sie mich aber direkt fragen, sage ich Ihnen ganz offen, daß meine Gedankengänge keine wesentliche Größe erreichen, meine Haltungen wackelig sind, meine Beobachtungen auch nicht schärfer als diejenigen, die in Feuilleton X von Spiegelmasturbateuren breitgetreten werden. Ich bin, will ich sagen, vielleicht nicht unwichtig, aber wichtig bin ich keinesfalls.

Ich bitte Sie, das nicht mit Bescheidenheit zu verwechseln, denn wäre ich bescheiden, würde ich gerade nicht schreiben. Ich bin mir sicher, daß das, was ich schreibe, zu Papier muss. Diese vermeintliche Aporie lässt sich in meinem Kopf nur auf eine einzige Weise auflösen: Meine anfängliche These ist falsch, denn es gibt einen dritten Fall, der beide Positionen in sich vereint – daß einer nichts zu sagen hat, aber dennoch überzeugt ist, daß es gesagt werden muss. Wenn Sie mich also fragen, wozu das Ganze, antworte ich:

So gute Dinge, wie ich nicht sage, müssen andere erst einmal sagen.