Dualitäter

Wenngleich Philosophie nicht mein Steckenpferd ist, so bin ich doch höchst interessiert an den Irrtümern der Leute, und nichts wird schöner missverstanden oder missbraucht als Gedankenexperimente. Es ist ein altes Spiel: Zäune werden zu Verfälschungen unserer inhärent freien Natur und schon Marx amüsierte sich über die Verknalltheit des Bürgertums in Robinsonaden, die den angeblich wahren Charakter des Menschen daraus ableiten wollen, wie ein moderner Mann sich entwickeln würde, wenn man ihn aus der Umgebung isoliert, die ihn überhaupt erst geschaffen hat, und stattdessen zwingt, sich einen Lendenschurz selbst zu klöppeln und vor den verwirrten Krabben am Strand zu masturbieren.

Einer meiner Favoriten ist der Trugschluss der goldenen Mitte. Es wird richtig gesagt, daß der reine Mittelweg zwischen zwei Positionen nicht zwangsläufig die beste Lösung darstelle. Wenn zwei Eheleute sich darüber streiten, ob sie ein Haus bauen sollen, weil einer es will und der andere nicht, ist keinem damit geholfen, wenn man ein halbes Haus baut. Wenn der Anwohner sagt, die Termiten in seiner Wohnung müssten vernichtet werden, und der Tierschützer, daß man das auf keinen Fall dürfe, sollte man nicht einen Teil der Krabbler plattmachen.

Doch ich kenne keinen Namen für den den ebenso falschen Umkehrschluss und die häufig aus diesem Trugschluss abgeleitete Idiotie, die Mitte zwischen zwei Positionen könne deshalb zwangsläufig nicht die richtige Position sein. Oder die ebenfalls oft irrige Annahme, es gebe nur exklusiv die beiden angesprochenen Positionen.

Ein Teil der Ursache dieses Problems ist natürlich Parteilichkeit. Wer einen Standpunkt hat, rückt von diesem in der Regel nicht mehr ab, und einen Kompromiss zu erreichen führt in der Regel zu unbefriedigten Handelspartnern. Doch das Problem geht tiefer. Eine mittlere Position nämlich ausschließlich als Kompromiss zu verstehen, ist nur die konsequente Fortsetzung der ersten irrigen Annahme, daß man mit den beiden gegensätzlichen Positionen zu arbeiten habe.

Aber natürlich ist das unbeholfene Einerseits-Andererseits zwischen den Stühlen nicht das Ziel einer Überlegung, sondern bestenfalls ihr Anfang. Wer sich mit dem Standpunkt zufrieden gibt, daß beide Seiten ihre Argumente und ihr Recht haben, und mit dieser platten Erkenntnis schlafen geht, der hat nicht überlegt, sondern ist ausgewichen. Was man mit der Erkenntnis anstellt, ist die Frage.

Kommt man zu dem Schluss, daß eine der Seiten im Recht ist, kann man diesen Standpunkt für sich einnehmen, und er ist durchaus zu unterscheiden von dem, der als reiner Beißreflex im ersten Moment einer Auseinandersetzung so oft eingenommen und dann bis aufs Blut verteidigt wird. Es gibt denkende Menschen in Parteien, aber denkende Parteien gibt es nicht. Reine und unkritische Parteilichkeit ist eine Religion, die also die Welt strukturieren und die eigenen Haltungen automatisieren soll.

Ebenfalls möglich ist natürlich, daß man sich vom Konflikt abwendet. Eine solche Kapitulation ist feige, aber doch ehrlicher als der pluralistische „Jeder hat ja irgendwie Recht“ Stuss. Viel schwieriger aber ist, im Konflikt eine Mitte anzustreben, die sich über die Interessen und Motivationen der Kontrahenten erhebt und diese Ansprüche auf einer höheren Ebene als der, sich gegenseitig mit Schaufel und Sandförmchen zu beschmeißen, aufzulösen sucht. Die meisten können das nicht, noch mehr wollen es nicht. Synthese ist Denken. Denken ist Arbeit. Der eigentliche Trugschluss der goldenen Mitte ist, daß sie nicht golden sein könne, weil man denkt, was mittig ist, müsse deshalb auch auf Augenhöhe sein. Um Tiefe zu erreichen, muss man dreidimensional gucken. Insofern würde ich diesen (soweit ich weiß) namenlosen Fehlschluss gerne an dieser Stelle taufen: Der Fehlschluss der fehlenden Z-Achse.

Es ist manchmal schwer zu glauben, daß ich, wenn ich aus dem Fenster blicke, dieselbe Stadt sehe, die auch Hegel aus seinem Fenster gesehen hat.

Das Zeitalter des Plapperns

Wenn einer sich äußert, dann müssen wir davon ausgehen, daß einer von zwei Fällen vorliegt: Er ist entweder überzeugt davon, etwas zu sagen zu haben, oder es ist ihm herzlich wurscht, daß er nichts zu sagen hat.

Welcher der beiden Fälle nun also bei mir vorliegt, ist eine interessante Frage. Da ich ein Blog habe, liegt die Vermutung nahe, ich sei einfach einer der üblichen quasselnden Ego-Klumpen, die angesichts des pluralistischen Zeitalters ihr reines Dasein mit Wichtigkeit oder dem Recht auf Respekt und Angehörtsein verwechseln. Es ist eine Möglichkeit. Wenn Sie mich aber direkt fragen, sage ich Ihnen ganz offen, daß meine Gedankengänge keine wesentliche Größe erreichen, meine Haltungen wackelig sind, meine Beobachtungen auch nicht schärfer als diejenigen, die in Feuilleton X von Spiegelmasturbateuren breitgetreten werden. Ich bin, will ich sagen, vielleicht nicht unwichtig, aber wichtig bin ich keinesfalls.

Ich bitte Sie, das nicht mit Bescheidenheit zu verwechseln, denn wäre ich bescheiden, würde ich gerade nicht schreiben. Ich bin mir sicher, daß das, was ich schreibe, zu Papier muss. Diese vermeintliche Aporie lässt sich in meinem Kopf nur auf eine einzige Weise auflösen: Meine anfängliche These ist falsch, denn es gibt einen dritten Fall, der beide Positionen in sich vereint – daß einer nichts zu sagen hat, aber dennoch überzeugt ist, daß es gesagt werden muss. Wenn Sie mich also fragen, wozu das Ganze, antworte ich:

So gute Dinge, wie ich nicht sage, müssen andere erst einmal sagen.