Was der Bauer nicht kennt

Manch einer, der sich abreagieren muss, brüllt in ein Kissen, boxt auf einen Sandsack oder quält jemanden, der sich nicht wehren kann. Des Deutschen liebstes Ventil ist das gepflegte Gepluster und Aufgebausche, das urgermanisch ochsische Muhen, das traditionell von Floskeln wie „Es kann ja wohl nicht sein, daß…“ und ähnlichem mehr eingeleitet wird. Impotente Wut hat immer Konjunktur – wenn dem Deutschen nichts schwillt, so schwillt ihm doch immer noch der Kamm.

Ich hatte heute einen Scheißtag, also vergreife auch ich mich am Schwächeren und hacke auf besagtem Deutschen für ein paar Minuten rum. Ist nicht fair, mit jemandem ins Duell zu gehen, der unbewaffnet ist, aber wozu sind Strawmen denn sonst gut?

Da gibt es also eine Kette von Kaufhallen namens Edeka, die dem Betrachter auch nicht anders vorkommen kann als alle anderen Märkte. Es wird gleichermaßen schweinisch produziert, angekarrt, berechnet und verschachert wie sonstwo auch. Freilich ist bei Edeka alles ein bisschen teurer als etwa bei den Kollegen von Lidl oder Aldi, dafür darf der Joghurt dann mehr linksdrehende Kulturen haben und es gibt ein paar Marken Shampoo mehr, derlei. Gerade der höhere Preis macht es amüsant, daß sich Edeka zum 100. Firmenjubiläum nun eine Billigkampagne überstülpt, wo man doch sonst eher auf ein Qualitätsimage setzt („Wir lieben Lebensmittel.“ heißt es im üblichen Slogan Edekas.)

Otto Waalkes darf sich also auf Plakaten und Pappaufstellern abhampeln, um die Kunde von der Preiserlösung zu verbreiten. Bitte kein Mitleid – dies ist sein einziges Geschäft und schon immer gewesen. Der Freezer-Friese ist neben verschiedenen Slogans zu finden, von denen es nun einer geschafft hat, den Ärger des Deutschen zu erregen.

Behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?

Wenn ich tausend Jahre alt werde, werde ich dennoch nie verstehen, warum manche Formen kapitalistischer Verarschung umjubelt, andere verpöhnt und wieder dritte völlig indifferent wahrgenommen werden. Als nun also Zwerg Edeka (nicht Wichtel Aldi) auf einem der Otto-Plakate verkündete „Essen hat einen Preis verdient – den niedrigsten.“ hätte damit wasauchimmer gemeint sein können, es wäre mir ebenso wurscht (käse, fisch, eier, frühstücksflocken…) gewesen wie jede andere Werbung. In den sozialen Medien, wie sozial die auch immer sein mögen in gewissen Händen, ging dieses Plakat aber rum.

Bauern (tatsächliche Landwirte) platzten fast die Augen aus den Kartoffeln, was für eine Mentalität sei denn hier am Werk, Billigproduktion und -verkauf werde umjubelt und völlig die Existenz und Realität deutscher Agrarproduzenten herabgewürdigt. Den subventionierten Ärgeropfern fielen andere gute Deutsche zu, darunter auch manche aus der Politik. Ich wusste bislang nicht, daß die CDU/CSU die BRD als einen Arbeiter- und Bauernstaat begreift, ziehe aber die Uschanka vor den Genossen und ihrer beherzten Solidarität mit der Bauernklasse.

Der Ärger also rührt nicht davon her, daß Edeka übel seien, sondern, daß sie es sich auf die Fahnen geschrieben hätten. Marktwirtschaft ist toll, solange ich nicht jeden Tag daran erinnert werde, wie genau sie alles ruiniert.

Die Pointe an der ganzen Sache hätte sich den cholerischen Plakatstürmern aufgezeigt, wenn sie, anstatt selbst aufgebracht zu sein, zweierlei aufgebracht hätten: 1. ein gewisses Maß an gesunder Skepsis und 2. den Willen zu einigen Sekunden Recherche. Denn: Selbst angesichts der sonstigen Unfähigkeit von Werbefritzen, einen Ton oder gutes Deutsch zu treffen, ist der Sound an dieser Stelle doch eigenartig. Wer außer verbal unbeholfenen Kindern nennt denn im offiziellen Sprachgebrauch die hauptsächliche Ware eines Supermarktes „Essen“? „Essen“ ist das, was am Ende des Tages auf dem Tisch steht, nachdem es zubereitet wurde. Schließlich behauptet Edeka ja auch nicht „Wir lieben Essen.“, sondern, weniger absonderlich im anbiedernden Handelsdeutsch, „Wir lieben Lebensmittel.“ – gelogen ist beides, aber eines klingt weniger gefräßig als das andere.

Und siehe da, bereits wenige Scrollbewegungen später ist die (wirklich nicht sehr schwer abzusehende) Lösung diesen merkantilen Krimistoffes auch schon fast offen ersichtlich. Wenn man nämlich erstmal entdeckt, daß es ganz dasselbe Plakat auch nochmal gibt mit „Berlin hat einen Preis verdient – den niedrigsten.“, dann kann dies als Rosettastein dienen und das Muster wird offenbar: Mehrere Orte haben dieses Plakat abgekriegt. Darunter auch die Stadt Essen.

Natürlich wusste der Deutsche das, es ging ihm ja ganz allgemein um die destruktive Geiz-ist-geil-Mentalität, die in diesem unserem Lande yadda yadda yadda. Und so verhallt das teutonische Wutmuhen, während der Deutsche langsam aber unbeschämt auf dem Schäferhund in den Sonnen- und Wonnenuntergang trabt. Kein Gedanke schießt ihm durch die Graubrotzellen seines Gehirns, nicht daran, daß kein Ausgang dieser Eskapade irgendetwas geändert hätte, nicht daran, daß es Leute gibt, die nicht aus Geiz sondern Notwendigkeit nach niedrigen Preisen gucken, an gar nichts. Er ist schon längst bei der nächsten Drüsenreaktion – wird es diesmal um Benzinpreise gehen, SPD-Vorstände, ausländische Nachbarn?

Geändert hat sich wieder mal kaum etwas. Das Magengeschwür ist vielleicht wieder ein paar Millimeter gewachsen, Otto Waalkes kann eine weitere Rechnung bezahlen, Edeka schuftet und schurkt ebenso wie zuvor und nicht anders als seine Kollegen. Und doch gibt es einen Aspekt dieser ganzen Affäre, der von Wert ist, der die Welt ein kleines Stückchen besser macht und für den es sich doch gelohnt hat:

Ich habe ein ganz kleines bißchen weniger Scheißlaune als zuvor.

Dualitäter

Wenngleich Philosophie nicht mein Steckenpferd ist, so bin ich doch höchst interessiert an den Irrtümern der Leute, und nichts wird schöner missverstanden oder missbraucht als Gedankenexperimente. Es ist ein altes Spiel: Zäune werden zu Verfälschungen unserer inhärent freien Natur und schon Marx amüsierte sich über die Verknalltheit des Bürgertums in Robinsonaden, die den angeblich wahren Charakter des Menschen daraus ableiten wollen, wie ein moderner Mann sich entwickeln würde, wenn man ihn aus der Umgebung isoliert, die ihn überhaupt erst geschaffen hat, und stattdessen zwingt, sich einen Lendenschurz selbst zu klöppeln und vor den verwirrten Krabben am Strand zu masturbieren.

Einer meiner Favoriten ist der Trugschluss der goldenen Mitte. Es wird richtig gesagt, daß der reine Mittelweg zwischen zwei Positionen nicht zwangsläufig die beste Lösung darstelle. Wenn zwei Eheleute sich darüber streiten, ob sie ein Haus bauen sollen, weil einer es will und der andere nicht, ist keinem damit geholfen, wenn man ein halbes Haus baut. Wenn der Anwohner sagt, die Termiten in seiner Wohnung müssten vernichtet werden, und der Tierschützer, daß man das auf keinen Fall dürfe, sollte man nicht einen Teil der Krabbler plattmachen.

Doch ich kenne keinen Namen für den den ebenso falschen Umkehrschluss und die häufig aus diesem Trugschluss abgeleitete Idiotie, die Mitte zwischen zwei Positionen könne deshalb zwangsläufig nicht die richtige Position sein. Oder die ebenfalls oft irrige Annahme, es gebe nur exklusiv die beiden angesprochenen Positionen.

Ein Teil der Ursache dieses Problems ist natürlich Parteilichkeit. Wer einen Standpunkt hat, rückt von diesem in der Regel nicht mehr ab, und einen Kompromiss zu erreichen führt in der Regel zu unbefriedigten Handelspartnern. Doch das Problem geht tiefer. Eine mittlere Position nämlich ausschließlich als Kompromiss zu verstehen, ist nur die konsequente Fortsetzung der ersten irrigen Annahme, daß man mit den beiden gegensätzlichen Positionen zu arbeiten habe.

Aber natürlich ist das unbeholfene Einerseits-Andererseits zwischen den Stühlen nicht das Ziel einer Überlegung, sondern bestenfalls ihr Anfang. Wer sich mit dem Standpunkt zufrieden gibt, daß beide Seiten ihre Argumente und ihr Recht haben, und mit dieser platten Erkenntnis schlafen geht, der hat nicht überlegt, sondern ist ausgewichen. Was man mit der Erkenntnis anstellt, ist die Frage.

Kommt man zu dem Schluss, daß eine der Seiten im Recht ist, kann man diesen Standpunkt für sich einnehmen, und er ist durchaus zu unterscheiden von dem, der als reiner Beißreflex im ersten Moment einer Auseinandersetzung so oft eingenommen und dann bis aufs Blut verteidigt wird. Es gibt denkende Menschen in Parteien, aber denkende Parteien gibt es nicht. Reine und unkritische Parteilichkeit ist eine Religion, die also die Welt strukturieren und die eigenen Haltungen automatisieren soll.

Ebenfalls möglich ist natürlich, daß man sich vom Konflikt abwendet. Eine solche Kapitulation ist feige, aber doch ehrlicher als der pluralistische „Jeder hat ja irgendwie Recht“ Stuss. Viel schwieriger aber ist, im Konflikt eine Mitte anzustreben, die sich über die Interessen und Motivationen der Kontrahenten erhebt und diese Ansprüche auf einer höheren Ebene als der, sich gegenseitig mit Schaufel und Sandförmchen zu beschmeißen, aufzulösen sucht. Die meisten können das nicht, noch mehr wollen es nicht. Synthese ist Denken. Denken ist Arbeit. Der eigentliche Trugschluss der goldenen Mitte ist, daß sie nicht golden sein könne, weil man denkt, was mittig ist, müsse deshalb auch auf Augenhöhe sein. Um Tiefe zu erreichen, muss man dreidimensional gucken. Insofern würde ich diesen (soweit ich weiß) namenlosen Fehlschluss gerne an dieser Stelle taufen: Der Fehlschluss der fehlenden Z-Achse.

Es ist manchmal schwer zu glauben, daß ich, wenn ich aus dem Fenster blicke, dieselbe Stadt sehe, die auch Hegel aus seinem Fenster gesehen hat.